Nach dem Ausbau des länderübergreifenden Eisenbahnnetzes in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts sollten möglichst auch viele kleine Städte und Gemeinden durch Lokal- oder Secundärbahnen in Form von Stichbahnen an das Eisenbahnnetz angebunden werden. Entsprechend der Sekundärbahnordnung von 1878 wurden zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit Vereinfachungen beim Bau und Betrieb gegenüber den Hauptbahnen zugelassen. In Bayern erwarb sich der Minister des Äußeren und für das Verkehrswesen, Friedrich Krafft von Crailsheim (1841 – 1926), große Verdienste beim Ausbau der Lokalbahnen.
Nach Einschätzung der bayerischen Staatsregierung war ein Bedarf für die sogenannten Secundär- oder Lokalbahnen vorhanden, die von der Hauptstrecke München – Salzburg aus sternförmig das Hinterland erschließen sollten. Aus einem Vermerk beim bayerischen Staatsarchiv geht hervor, dass es 1887-1898 auch Überlegungen für das Projekt einer Lokalbahn von Traunstein nach Chieming gab.
Bereits um 1880 entstanden erste Pläne für eine Lokalbahn von Traunstein über Ruhpolding hinaus nach Reit im Winkl. 1885 wurde der Bau einer verkürzten Linie von Traunstein nach Ruhpolding aufgenommen und nach fast einem Jahrzehnt fertig gestellt. Die Eröffnung erfolgte am 17. August 1895. Einige Jahre zuvor war im September 1891 mit der Eröffnung der Traun-Alz-Bahn nach Trostberg das erste Lokalbahn-Projekt von Traunstein aus realisiert worden. Am 1. Dezember 1902 wurde eine Lokalbahn nach Waging eröffnet.
Eine Bahnverbindung von Traunstein an den Chiemsee lag vorrangig im Interesse der Stadt Traunstein, die als Kneipp- und Solekurort Ausgangspunkt für Besucher des Chiemsees mit seinen Inseln werden wollte. Die städtischen Collegien beschlossen daher am 31. Oktober 1887 Verhandlungen in dieser Frage einzuleiten.
Das Lokalbahnprojekt Traunstein – Chieming wird in einem Schreiben der Lokalbahn-Aktiengesellschaft in München (vormals Krauss & Co.) vom 12.11.1887 an den “volllöblichen“ Magistrat der Stadt Traunstein erstmals genauer beschrieben. Für die Finanzierung brachte sich im März 1888 die Bank Pollak, Rothschild & Cie. aus Frankfurt ins Gespräch. Auch der Dampfschiffbesitzer Ludwig Feßler aus Prien unterstützte dieses Projekt, indem er eine regelmäßige Verbindung von Chieming zu den Inseln zusicherte und speziell für die Verbindung von Chieming zur Fraueninsel ein neues Boot bereitstellen wollte. Einschränkend wies er jedoch daraufhin, dass ein regelmäßiges Landen in Chieming bei Sturm unmöglich sei. Außerdem wollte er die hohen Kosten nicht allein tragen, da die Gemeinde Chieming “vielleicht mit der Canalangelegenheit nichts zu tun haben wolle“.
Nachdem Prinzregent Luitpold, der Nachfolger Ludwigs. II., 1886 der Öffentlichkeit die Besichtigung von Schloss Herrenchiemsee erlaubte, hatte Feßler ein Jahr später eine dampfbetriebene Schmalspurbahn vom Bahnhof Prien zur Schiffsanlegestelle Stock bauen lassen und damit dem Tourismus zu den Chiemsee-Inseln von Prien aus den Weg geöffnet. Mit einer Bahnverbindung von Traunstein nach Chieming erhoffte man sich eine weitere Zunahme der Besucher.
Die Projektierungskosten für die normalspurige Strecke nach Chieming waren von der Lokalbahn-Aktiengesellschaft in München mit 1.350 Mark beziffert worden. Auf Veranlassung des Magistrats der Stadt Traunstein zeichneten die Gemeinde Chieming und Bürger der Gemeinde 350 Mark sowie Ludwig Feßler 100 Mark als Kostenzuschuss. Am 10. April 1888 beschloss der Magistrat der Stadt Traunstein ebenfalls einen Kostenzuschuss zu leisten. Die zuständige Behörde wurde ersucht, den Distriktrat Traunstein und die an der Bahnverbindung interessierten Gemeinden wie Grabenstätt und Erlstätt zu einem Kostenbeitrag zu veranlassen. Nach Erklärung des Distriktrats und der Gemeinden sollte dann der anteilige Kostenzuschuss der Stadt Traunstein festgesetzt werden. Da diese Erklärungen nicht abgegeben wurden und der Bau der Bahn von Traunstein nach Ruhpolding noch nicht völlig gesichert war, wurde die Projektierung der Bahn nach Chieming vorerst zurückgestellt.
Im Traunsteiner Wochenblatt vom 1. Juli 1890 wurde das Projekt wieder aufgegriffen unter Hinweis auf den Wunsch vieler Stadt- und Landbewohner des Chiemgaus, dass “eine solch nahe Verbindung zwischen Traunstein und dem bayrischen Meer mit seinem prächtigen Königsschloss im Sommer ein ganz anderes Leben und Treiben in unsere Stadt bringen würde“.
Die Aussichten für den Bau der Bahn durch ein Privatkonsortium mit Finanzierung durch eine Privatbank wurden geringer, nachdem sich kein Privatinvestor gefunden hatte und die Verhandlungen mit der Bank aus Frankfurt erfolglos verliefen. Für einen Betrieb der Bahn unter staatlicher Regie waren die Grunderwerbskosten durch Bezirk, Stadt und die beteiligten Gemeinden zu tragen und ein Rentabilitätsnachweis zu erbringen. Dieser war im Hinblick auf das geringe Verkehrsaufkommen in der Winterzeit, den nur mäßigen Güterverkehr und das fehlende Hinterland kaum möglich.
Die an der geplanten Bahnlinie liegenden Gemeinden verhielten sich in finanzieller Hinsicht ablehnend. Am 21. Juli 1891 teilte das Königliche Bezirksamt der Stadt Traunstein mit, dass auch Ludwig Feßler das Projekt nicht mehr unterstütze. So blieb Chieming als einzige Gemeinde interessiert, konnte aber die Einstellung des Projektes durch den Staat wegen fehlender Rentabilität nicht verhindern.
Auch der nochmalige Versuch im Jahre 1896, den Bau einer Schmalspurbahn für Personen- und Güterverkehr mit möglichst geringen Grunderwerbs- und Baukosten durch einen Privatinvestor zu erreichen, führte zu keinem Erfolg. Für interessierte Privatpersonen, wie etwa den Vorstand des Königlichen Bezirksamtes, der eine Bahn zwischen Seebruck und Matzing bauen wollte, gab es keine Konzession, da diese nur einem die Bahn bauenden Konsortium oder einer Gesellschaft erteilt werden konnte.
Das Traunsteiner Wochenblatt machte das Projekt jedoch regelmäßig zum Inhalt langfristiger wirtschaftlicher Überlegungen für die Stadt Traunstein und für die Region. In einem Bericht vom 17. November 1896 wird darauf hingewiesen, dass von den Traunsteiner Bürgern keine außerordentlichen Geldopfer für den Bau der Bahn verlangt werden, da die projektierten Kosten nach Aussagen von Sachverständigen gering seien und jedes Risiko ausgeschlossen werden könne.
Die Kosten für eine schmalspurige “Dampftrambahn“ wurden auf rund 200.000 Goldmark (heute etwa 3,8 Mio Euro) geschätzt, einschließlich Grunderwerb, Erdarbeiten, Bahnbau und Wagenpark. Es ist nicht erkennbar, ob weitere Kosten, z.B. für Stations- und Wartungsgebäude in diesen Kosten erfasst wurden. Das Traunsteiner Wochenblatt hob den Nutzen der Bahn für Traunstein und die an der Bahn liegenden Gemeinden hervor, wobei insbesondere Chieming am Endpunkt der Bahn profitieren könnte: “Passantenverkehr in vielleicht nicht geahnter Höhe, die Ansiedlungen in Loco werden sich vermehren und hierdurch die Baukunst rege erhalten“. Auch auf die Gewinnmöglichkeiten für Handel und Gewerbe wurde hingewiesen.
Die maßgebenden Ministerien in München waren jedoch nicht bereit, sich weiter an diesem Projekt zu beteiligen, nachdem zuletzt auch “kapitalkräftige Herren“ mangels Rentabilität abgesprungen waren. Allerdings schloss man nicht aus, in zehn Jahren auf Staatskosten eine Lokalbahn Traunstein – Chieming zu bauen, da der Staat nicht nur aus Gründen der Rentabilität, sondern auch aus volkswirtschaftlichen Gründen bauen würde. So hofften die Gemeindevertretungen vorerst weiterhin auf einen Privatinvestor.
Im Jahresbericht des Traunsteiner Bürgermeisters Seuffert am 4. Dezember 1896 im Magistrat wurden insbesondere die den Landkreis betreffenden schwebenden Bahnangelegenheiten eingehend dargestellt. Zum Projekt der Bahn nach Chieming wurde einstimmig beschlossen, dem Vorhaben “voll und ganz die moralische Unterstützung zu gewähren“ und die erforderlichen Mittel, soweit sie die Stadt Traunstein betreffen, zu garantieren.
Mit diesem Beschluss hoffte man, den Betreiber der Chiemseeschifffahrt, Ludwig Feßler, umzustimmen, da in der Zwischenzeit Überlegungen für eine Erweiterung der Bahnlinie am Ostufers des Sees bis Prien aufgekommen waren. Unter Hinweis auf die Monopolstellung seiner Dampfschifffahrt auf dem Chiemsee und dem daraus gezogenen Nutzen wurde eine moralische Verpflichtung zur Beteiligung an dem Chiemsee-Ringbahn-Projekt abgeleitet. Bei weitgehender finanzieller Unterstützung des Vorhabens sollte Feßler neben der Konzession für die Dampfschifffahrt auf dem See auch die Konzession für den Betrieb der Ringbahn erhalten.
Doch sowohl Feßler als auch die Lokalbahn-Aktiengesellschaft München teilten noch im Dezember 1896 der Stadt Traunstein mit, dass sie nicht gewillt seien, dieses Projekt auf ihre Kosten auszuführen. Nun hoffte der Magistrat nach Fertigstellung der Lokalbahn nach Waging auf eine neue Entscheidung der Staatsbahn oder auf einen privaten Investor.
In Traunstein entwickelte sich aus einer Bürgerinitiative mit Unterstützung des Magistrats ein “Comité“, das im Jahre 1897 an höchster Stelle eine Konzession zur Projektierung einer Dampfbahntram nach Chieming durch den Gutsbesitzer Eugen Rosner (1856-1917) beantragte. Das Königliche Staatsministerium des Äußeren und der Verkehrsanstalten erteilte aufgrund detaillierter Unterlagen eine Konzession an den Gutsbesitzer für die Dauer eines Jahres. Rosner hat wohl das Projekt mit Eifer betrieben, jedoch eigenwillig anstelle einer Dampfbahn eine elektrische Bahn geplant mit weitaus höheren Kosten als bisher benannt. Pro Kilometer wurden hierfür 380 Mark veranschlagt, ohne dabei die Kosten für die Stromerzeugung durch Wasserkraft zu berücksichtigen. Das Projekt wurde vom Ministerium zurückgewiesen, da lediglich die Projektierung einer Dampfbahn für die 10 Kilometer lange Strecke auf der Basis von 75 Mark pro Kilometer genehmigt war. Die Projektierungskonzession wurde dennoch für ein Jahr verlängert.
Auch in Chieming waren die Gemeinde und ihre Bürger an der Realisierung des Projektes interessiert, nachdem das Badewesen sich weiter entwickelt hatte und die Errichtung von Badeanstalten geplant war. Das Traunsteiner Wochenblatt vom 15. Oktober 1898 berichtet:
Der heurige Sommer hat zur Genüge der Überzeugung Bahn gebrochen, wie prachtvoll Chiemsee-Bäder gewirkt und benützt worden sind und es würde thatsächlich von der Gemeinde Chieming in Errichtung von Badeanstalten vorangegangen werden, falls Aussicht bestünde, die Lokalbahn zu erhalten oder überhaupt ein reger Verkehr hergestellt würde. Mit lobenswertem Eifer und erhöhtem Kostenaufwand hat der Verschönerungsverein Chieming im heurigen Jahre ausgedehnte Obstbaum-Alleen gepflanzt und Ruhebänke an den schönsten Aussichtspunkten angebracht, die bis zum Weiler Aufham reichen und ist auch für Überfahrts Kähne bestens gesorgt, so dass die Bereitwilligkeit der Ortsbürger noch Besseres zu schaffen nicht erlahmen würde, falls sie Entgegenkommen in dieser obschwebenden Angelegenheit finden.
Es wurde nun die versuchsweise Einführung einer Motorpostwagenverbindung von Traunstein nach Chieming vorgeschlagen, um die Eisenbahnpläne “in Schach zu halten“. Ein Omnibus für 12 bis 20 Personen sollte tagsüber nach Bedarf und in der Dampfschifffahrtsaison drei- oder viermal täglich verkehren. Nach Einführung der Buslinie würde mit Sicherheit erkannt werden, ob weiterhin der Bedarf nach einer Bahnverbindung besteht oder aber die Anschaffung eines Omnibusses mit den erforderlichen Einrichtungen so geringen Aufwand erzeugt, dass ein finanzielles Risiko ausgeschlossen werden konnte.
Im März 1899 reichte der Schlossgutbesitzer und ehemalige Lederfabrikant Friedrich Schneider (1841-1909) aus München an das Königliche Staatsministerium des Äußeren eine Petition zum Bau einer “Chiemseegürtelbahn“ von Traunstein über Chieming, Seebruck, Hartmannsberg nach Endorf ein. Gleichzeitig bat er im Juni 1899 den Magistrat von Traunstein um Unterstützung seines Vorschlages. Zur Projektierung kam es jedoch nicht, da ein durchgehendes Nebenbahnnetz Konkurrenz für die Hauptstrecke München – Salzburg bedeutet hätte.
In der Folgezeit entstanden immer wieder Gruppierungen, die zur Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen nur einen kleinen Anteil der Bahntrasse beanspruchten, dabei aber den Hauptzweck außer Acht ließen. Eine dieser Gruppen schlug im Juli 1901 eine Verbindung von Wasserburg über Frabertsham, Obing, Seeon, Seebruck, Chieming nach Traunstein mit einer Länge von 36 km vor. Dabei wurden die Vorteile dieser Verbindung für die am nördlichen Ufer des Chiemsees gelegenen Orte, vor allem Seebruck, und die Stadt Traunstein in den Vordergrund gestellt.
Die bevorstehende Eröffnung der Bahn nach Waging machte neue Hoffnung. Im Januar 1902 bekundete der Schlossgutbesitzer von Ising, Rittmeister und Oberleutnant d.R. Leopold Czermak, im Namen eines provisorischen Komitees gegenüber der Stadt Traunstein sein Interesse am Bau der Bahn bis Seebruck. Er hoffte auf eine Genehmigung zur Projektierung, die jedoch versagt wurde.
Zur gleichen Zeit hatte sich auch in Chieming ein provisorisches Komitee gegründet, das die Bürger für den 20. Januar 1902 in das Gasthaus Oberwirt einlud. Es sollte eine Eingabe an den Petitionsausschuss des Landtags in München gerichtet werden mit der Bitte um Projektierung der schmalspurigen Bahnlinie durch einen Staatsbauingenieur. Auch dieses Vorhaben scheiterte. Letztmalig wurde das Projekt im November 1911 im Traunsteiner Magistrat behandelt unter Hinweis auf einen Anschluss der mit der Bahn aus Österreich anreisenden Besucher an die Dampfschifffahrt in Chieming. Weitergehende Maßnahmen unterblieben.
Nachdem alle Versuche zur Errichtung einer Lokalbahn entlang des östlichen und nördlichen Chiemseeufers bereits vor und in der Projektierungsphase scheiterten, wurde in den Folgejahren das Augenmerk auf eine Postbusverbindung gelegt.
Karlheinz Schuster
Quellen: Stadtarchiv Traunstein, Auszüge aus Protokollen und Schriftverkehr des Magistrats
Traunsteiner Wochenblatt vom 01. und 03.07.1890, 17.09., 17. und 19.11., 3. und 15.12.1896, 14.01.1897, 18.01.,15.10.1898, 09.07.1901
Traunsteiner Nachrichten vom 18.11.1896
Augsburger Abendzeitung vom 27.11.1896
Foto Dampflok: Jiri Bouda